Wenn Buchstaben ihre Muskeln zeigen
«Poetry & Performance. The Eastern European Perspective»
Aufgezeichnet von Sylvia Sasse, 13.10.2018
https://www.republik.ch/2018/10/13/wenn-buchstaben-ihre-muskeln-zeigen
Eine Auswahl dieser Experimente führt die Ausstellung «Poetry & Performance. The Eastern European Perspective» vor. Nach der Eröffnung im slowakischen Žilina gastiert sie in Zürich, bevor sie weiterreist nach Dresden, Budapest und ins tschechische Liberec. Über die Hintergründe und über die Zusammenhänge, in denen die gezeigten Werke entstanden, unterhält sich Sylvia Sasse, Professorin für slawistische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich, mit den Ausstellungskuratoren Sabine Hänsgen und Tomáš Glanc.
Sylvia Sasse: Dichtung, die nicht nur zwischen zwei Buchdeckeln, sondern auf der Bühne oder auf der Strasse stattfindet, erlebt gerade einen Boom. Man könnte das als eine Reaktion auf die Verarmung des politischen und öffentlichen Sprechens lesen. Eure Ausstellung «Poetry & Performance. The Eastern European Perspective», die gerade in der Zürcher Shedhalle zu sehen ist, blickt zurück auf die Zeit des Realsozialismus in Osteuropa. Auch damals reagierten Künstler und Künstlerinnen mit Sprachlust und Sprachwitz auf die Verengung des Denkens in Parolen.
Tomáš Glanc: Wenn die öffentliche und politische Sprache verarmt oder zynisch instrumentalisiert wird, wird Dichtung, diese «auf sich selbst eingestellte Sprache», zu einem Mittel von Reflexion und Kritik. Es ist deshalb sicherlich kein Zufall, dass gerade Künstler in den Autokratien Osteuropas so viel mit Sprache experimentiert haben.
Sabine Hänsgen: Mit der poetischen Performance wurde nicht nur – wie in der konkreten oder der visuellen Poesie – die materielle und mediale Seite von Sprache gezeigt, sondern auch ihre situative. So konnten ganz unterschiedliche Möglichkeiten sprachlicher Äusserung künstlerisch durchgespielt werden. Es ging also nicht nur um Reflexion, sondern auch um die Entwicklung von alternativen Handlungs- und Sprechoptionen in autoritären Gesellschaften.
Sylvia Sasse: Ist demnach in Osteuropa zwischen Poesie und Performance eine besondere Beziehung zu erkennen?
Sabine Hänsgen: Ja, darauf wollen wir mit dem Titel aufmerksam machen. Mit dem dreifachen P aus «Poetry & Performance» sowie «Perspective» verbinden wir auch eine Forschungsthese, die kurz gefasst etwa so lautet: Während die Performance in Westeuropa und Nordamerika als Reaktion auf die spätkapitalistische Warenkultur mit einem Überfluss an materiellen Dingen verstanden werden kann, bedeutet die Performance in den osteuropäischen Kulturen vor allem eine Auseinandersetzung mit der politisch-ideologischen Kultur als einer Kultur der Texte, Manifeste, Instruktionen und Losungen.
Sylvia Sasse: Der Losung als künstlerischem Genre begegnet man in der Ausstellung mehrfach. Das sind keine herkömmlichen Losungen, sondern radikal poetische, philosophische, meditative oder dadaistische Losungen.
Sabine Hänsgen: Ja, mit poetischen Losungen haben Künstlerinnen etwa in Polen, der Sowjetunion oder in Jugoslawien unabhängig voneinander gearbeitet. Die polnische Künstlerin Ewa Partum benutzte Buchstaben aus weissem Karton, die in den Geschäften verkauft wurden, um daraus Losungen zur Dekoration von Arbeitsstätten oder kommunalen Wohnungseinrichtungen zusammenzustellen. Sie verstreute diese Buchstaben in städtischen Räumen und in der Natur nach dem Zufallsprinzip und befreite sie so von ihrer ursprünglichen Bedeutung. Sie nennt diese Arbeiten «aktive Poesie».
Oder die Gruppe Kollektive Aktionen aus Russland: Am 26. Januar 1977 wurde von der Gruppe ein erstes Losungstransparent aufgehängt, aber nicht auf der Strasse, sondern im Wald. Das Transparent trug die Aufschrift: «Ich beklage mich über nichts, und mir gefällt alles, ungeachtet dessen, dass ich noch nie hier war und nichts über diese Gegend weiss.» Die Losungstransparente sind hier sozial und ideologisch funktionslos, zum einen durch ihre räumliche und zeitliche Deplatzierung und zum anderen durch die Beschriftung mit lyrischen Texten in der Art sentenzenhafter Kōan-Sprüche. Auf diese Weise wird die Bedeutungsleere der politischen Formelsprache offengelegt und in einer zenbuddhistisch inspirierten Ästhetik der Leere transzendiert.
Sylvia Sasse: Dass die Kollektiven Aktionen ihre Losungen in den Wald gehängt haben, hat auch damit zu tun, dass Performances, Aktionen oder Happenings in Osteuropa – mit Ausnahme von Jugoslawien oder Polen – dem Staat Angst machten. Sie waren zu westlich, nahmen zu sehr Bezug auf die Avantgarde und waren zu unvorhersehbar. Unter diesen Voraussetzungen war es nicht gerade einfach, Poesie mit Performance zu verbinden.
Sabine Hänsgen: Fast überall konnte die poetische Performance nur in privaten Räumen realisiert werden: in Wohnungen, Ateliers und in der weniger unter Kontrolle stehenden Natur. Möglicherweise wurde bei Performances im öffentlichen Raum auch eine Konkurrenz zu den ritualisierten Kommunikationsformen im politischen Alltag befürchtet oder gar ein Verlachen dieser Rituale. Zumindest war das in der Sowjetunion oder in der DDR der Fall. In Jugoslawien oder Polen war es hingegen möglich, in den öffentlichen Raum zu intervenieren.
Tomáš Glanc: Die poetischen Happenings der Gruppe Orange Alternative in Polen basierten oft auf Sprachspielen oder auf Parodien von öffentlichen Feiertagen. 1987 demonstrierten sie in Wrocław mit der Losung «Precz z (U)Pałami», auf Deutsch «Weg mit der Hitze» – einem völlig absurden Imperativ. Nimmt man aber einen Buchstaben weg, dann wird aus «Upały» (Hitze) das Wort «Pały» (Schlagstöcke), und die Aktion heisst: «Weg mit den Schlagstöcken». Es handelte sich um eine Reaktion auf die Polizeigewalt während des Kriegszustandes nach dem Verbot der Solidarność.
Sylvia Sasse: Die Künstler mussten sich nicht nur Räume für ihre Aktionen suchen, sondern auch jene Funktionen übernehmen, die sonst der Literatur- oder Kunstbetrieb innehat. War die poetische Performance auch eine alternative Publikationsform und Aufzeichnungspraxis?
Sabine Hänsgen: Als ich Anfang der 1980er-Jahre aus Westdeutschland nach Moskau kam, um dort zu studieren, faszinierten mich gerade diese Formen der künstlerischen Selbstorganisation im subkulturellen Milieu. Sie entwickelten sich eben nicht nur jenseits der realsozialistischen Staatskultur, sondern auch jenseits des Marktes. Bücher wurden im Selbstverlag herausgegeben und Gedichte vor einem kleinen Publikum präsentiert, das aus Freunden, also wiederum Dichterinnen, Künstlerinnen, Theoretikern bestand. Auf diese Weise bildete sich eine intime Öffentlichkeit heraus, die durch Partizipation statt Konsum gekennzeichnet war. Ich selbst habe einige dieser Aktionen mit meiner in die Sowjetunion geschmuggelten Videokamera festgehalten. Angesichts einer immer umfassender werdenden Kommerzialisierung der Kunst im globalen Massstab können diese Formen der Selbstorganisation auf der Suche nach alternativen Kommunikations- und Kooperationsformen auch heute noch als Anregung dienen.
Tomáš Glanc: Manchmal sind in der gelenkten Kulturpolitik auch Inseln entstanden, die weder privat noch staatlich waren. Diese Zwischenräume spielen besonders in Jugoslawien eine grosse Rolle, zum Beispiel im Studentischen Kulturzentrum in Belgrad, das nach 1968 zu einem international bekannten Schauplatz für experimentelle und neoavantgardistische Ästhetik avancierte. Hier wurde auch «aktive Poesie» ohne innere oder äussere Zensur betrieben.
Ein anderes Beispiel war ein ästhetisch, aber auch politisch äusserst radikales Programm im tschechoslowakischen staatlichen Rundfunk im Jahr 1969. Das kleine «periphere» Studio Liberec konnte regelmässig ein «Semester des experimentellen Schaffens» senden. Das waren phonische Experimente an der Grenze zwischen Poesie und Musik, die die Sprache ernsthaft hinterfragt und gleichzeitig witzige, scharfsinnige Experimente durch staatliche massenmediale Kanäle verbreitet haben. Der berühmte «Sound-Poet» Ladislav Novák war der spiritus agens dieser Aktivität.
Und der junge Václav Havel verfasste dort 1969 in einer Audiokomposition, die nur aus Sprachfragmenten bestand, den Director’s Cut der tschechoslowakischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er verwendete dafür historische Reden und auch blosse Sprachgeräusche, nonverbale Defekte der Sprache. So konfrontierte er die Geschichte mit ihrem eigenen – sprachlichen – Abfall.
Sylvia Sasse: Der russische Philosoph Michail Bachtin hat einmal gesagt, dass Literatur nicht einfach die Verwendung von Sprache sei, sondern die künstlerische Erkenntnis von Sprache. Das gilt, scheint mir, in besonderem Masse für situative Poesie, weil sie auf alle Dimensionen der Sprache und des Sprechens abzielt: auf den Körper, der sie artikuliert, auf die Medien, die sie übertragen, und auf die Räume, in denen sie erscheint.
Sabine Hänsgen: Ja, im Unterschied zum einsamen, stillen Lesen wird der Text durch die Aufführung in den situativen Zusammenhang einer Wahrnehmung durch die Zuschauer und Zuhörer gebracht. Mimik, Gestik und vor allem Klangfarbe, Intensität und Rhythmus der Stimme treten ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
In unserer Ausstellung ist dies besonders eindrucksvoll in den Arbeiten von Katalin Ladik nachzuvollziehen. In ihrer Performance «UFO Party» (1970) ist die Stimme nicht nur Medium von Sinnaussagen, sie verselbstständigt sich und agiert auch gegen den Sinn des Textes. Durch das Loslösen von den Wortbedeutungen wird Ladiks Poesie zur reinen Sound-Dichtung.
Für diese Entwicklung hin zu einer abstrakteren Klanglichkeit spielte bei Katalin Ladik interessanterweise die ungarische Sprache eine entscheidende Rolle, als eine fremde Sprache, eine Minderheitensprache in der Wojwodina, jener Region im ehemaligen Jugoslawien, in der Ladik damals lebte.
Sylvia Sasse: Ihr zeigt auch aktuelle Arbeiten, unter anderem poetische Performances von Roman Osminkin, Babi Badalow, Slobodan Tišma und Pussy Riot. Als Mitglieder von Pussy Riot beim WM-Endspiel Kroatien gegen Frankreich in Milizuniformen aufs Spielfeld liefen, wusste kaum jemand, dass sie sich dabei auf eine Kultfigur der russischen Dichtung bezogen, auf Dmitri Prigows «Milizionär». In der Ausstellung kann man sowohl Prigows «Milizionär» sehen und hören als auch Pussy Riots Manifest lesen. Warum ist Prigow so wichtig für die heutigen Dichteraktivisten?
Sabine Hänsgen: Der Dichter als Milizionär – in dieser Verkörperung sehen und hören wir Dmitri Aleksandrowitsch Prigow bei einer Lesung in seiner Wohnung in Beljajewo, einer Schlafstadt am Rande von Moskau. In seinem wohl bekanntesten Textzyklus aus den 1970er-Jahren wird der Dichter-Milizionär als doppeldeutig inszenierte Kultfigur zum Vermittler zwischen Himmel und Erde, zum Repräsentanten einer höheren «sakralen» Ordnung. Die Videoaufnahme setzt dies auch ins Bild: Eine Grossaufnahme in frontaler Einstellung bei besonderer Beleuchtung verleiht dem Dichtermilizionär in seiner Uniformmütze ein ikonengleiches Antlitz.
Es ist bis heute eine provozierende und irritierende Selbststilisierung, wenn der Dichter aus dem Underground in die Rolle eines staatlichen Ordnungshüters schlüpft – auch wenn dies mit einem ironischen Gestus geschieht. Ein wichtiger Impuls ist hier bei Prigow das Bestreben, die Stimme der Macht, wie sie vor allem auch durch die offiziellen Massenmedien übertragen wird, zu dekonstruieren. Eine solche Dekonstruktion ist für die nachfolgenden Generationen immer noch von grosser Aktualität.
Tomáš Glanc: Die aktuellen Positionen ergänzen und bearbeiten den raffinierten Umgang mit der Sprachmacht und mit der Sprache der Macht im Underground. Der Performance-Dichter Roman Osminkin hat im März 2018, am Tag der inszenierten Präsidentenwahlen, in Russland den Ausdruck «Stimme abgeben» wörtlich genommen – in einer wortlosen Aktion. Er versuchte, die eigene Stimme aus dem Hals, aus dem Körper herauszuholen, um seiner Bürgerpflicht nachzukommen – die Stimme weigert sich aber, er kann sie trotz seiner Bemühungen nicht fassen, nicht herauskriegen. Auch Osminkin ist übrigens ein treuer und expliziter Anhänger von Dmitri Prigow.
Sylvia Sasse: In der Ausstellung zeigt ihr 150 Werke von 50 Künstlern respektive Dichterinnen aus 10 verschiedenen Ländern. Es ist aber nicht so einfach, Poesie auszustellen. Wie habt ihr das Problem in Zürich gelöst?
Tomáš Glanc: Für die Shedhalle haben junge Architekten aus Prag eine weisse Struktur ganz aus Papier entworfen. Sieben transparente Altane beziehungsweise White Cubes organisieren den Raum und werden zum Medium der Poesie. Geht man hinein, kann man in Ruhe Videoaufnahmen ansehen und hören. Das Zentrum der Ausstellung ist bewusst leer gelassen. Stellt man sich in diese Mitte, hört man nur Sprachfetzen aus den Sound-Duschen, die überall im Raum verteilt sind. Wir sehen aber auch Poesie an den Wänden, auf Körpern oder Stoffen, mit Tinte, Farbe oder Blut geschrieben. Die Ausstellung ist ein work in progress, bei dem wir schrittweise unser Wissen erweitern und mit Co-Kuratorinnen aus verschiedenen Ländern zusammenarbeiten. Und zusammen mit der Ausstellung gehen wir auf Reisen: Geplant sind noch Stationen in Dresden, Budapest und Liberec.
Sylvia Sasse: Ist das Ausstellen für euch eine Art Forschung mit anderen Mitteln?
Sabine Hänsgen: Es ging uns auch darum, kulturelle Schätze zu heben, Autorinnen und Positionen überhaupt bekannt zu machen, die wir selber erst durch unsere Recherche kennengelernt haben. Mit unserer Ausstellung können wir so auch zur Infragestellung eines Kanons beitragen, der sich an westeuropäischen und nordamerikanischen Werken und Theorien ausrichtet. Der früh verstorbene polnische Kunstwissenschaftler Piotr Piotrowski hat dem westlich zentrierten, vertikalen Modell der Kunstgeschichte ein horizontales, polyphones und dynamisches Paradigma der kritischen kunsthistorischen Analyse gegenübergestellt. In seiner theoretischen Tradition möchten wir Aufmerksamkeit für eine Vielzahl wenig bekannter Positionen und Stimmen schaffen – zur Vorbereitung einer möglichen Revision der Performance-Geschichtsschreibung.
Zur Ausstellung
Poetry & Performance. The Eastern European Perspective. Shedhalle, Rote Fabrik Zürich, noch bis 28. Oktober. Es lohnt sich, an einer der Führungen mit dem Kuratorenteam teilzunehmen. Gelegenheit bietet sich noch am Sonntag, 14. Oktober, 14 Uhr sowie am Sonntag, 28. Oktober, 16 Uhr.
Zu den Personen
Sabine Hänsgen ist Slawistin, Kuratorin, Künstlerin und Autorin zahlreicher Texte zur russischen Literatur und Kunst und zum osteuropäischen Film. Sie arbeitet als Forscherin an der Universität Zürich.
Tomáš Glanc ist Slawist, Kurator und Autor von zahlreichen Texten zur russischen und tschechischen Literatur und Kunst. Er arbeitet als Forscher an der Universität Zürich.
Sylvia Sasse ist Professorin für Slawistische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich, sie leitet das ERC-Projekt «Performance Art in Eastern Europe (1950–1990): Theory and History», in dessen Rahmen die Ausstellung erarbeitet wurde.
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Artikel in der Republik vom 13.10.2018
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